Wo stehen wir, wie geht es weiter? Ein Statusbericht der Saison 2011

Die Vollverschalung erfüllt die konzeptionellen Vorgaben, aber...

Die Saison 2010 hatte gezeigt, dass die meisten konzeptionellen Vorgaben an die neu gebaute Peregrinvollverschalung umgesetzt werden konnten: Dank seines ausgereiften Öffnungsmechanismus und der Fussklappen konnte das HPV ohne fremde Hilfe genutzt werden. Grundsätzlich waren dadurch Fahrten im öffentlichen Verkehr kein Wunschdenken mehr. Als Cabrio gefahren (Kopf draussen) war es an der WM 2010 in Jersey nur unwesentlich langsamer als die totalverschalte Konkurrenz, was mich nach einigem Rechnen dazu bewog, kühlen Kopf zu bewahren und für den 24 Stundenweltrekordversuch auf der Dekrateststrecke in der Lausitz bewusst auf eine Kopfverschalung zu verzichten. Beim geforderten 46er Schnitt (1107 km in 24 Stunden) spielt der Rollwiderstand die Hauptrolle und diesen konnte ich dank 44 mm breiten Spezialreifen von Michelin (Cr = 0.0024) gering halten. Trotz grossem Erfolg, ich erreichte bekanntlich eine Distanz von 1160 km und wurde nur durch ein sehr aerodynamisches Dreirad (Milan SL) geschlagen, wurde mir aber auch klar, dass für weitere Rekordversuche und Geschwindigkeiten jenseits der 60 km/h die Sitzposition auf dem Peregrinrahmen mit 370 mm zu hoch war und der Radstand etwas kurz.

Der Birk Comet Rahmen passt tatsächlich in die Peregrin VV rein

Ein neuer, etwas längerer Peregrin Rahmen mit Vorderradantrieb und tieferer Sitzposition war zwar schnell gezeichnet, aber ohne halbjährigen Urlaub kaum zeitgerecht zu verwirklichen. Die Idee wurde deshalb verworfen. Die Möglichkeit, auch andere Rahmen mit der VV zu verwenden, war Teil des Konzeptes, wobei lediglich kleinere Verschalungsteile wie Radverschalungen und Befestigungen neu gebaut werden mussten. Die Heckverschalung meines Birk Comet und die Gabel hatte ich 2008 in Bentwaters havariert und den ehemals weltmeisterlichen Rahmen wohl mehr aus sentimentalen Gründen noch nicht günstig verhökert. Nun schien er wie dafür gemacht, die VV zu tragen. Meine Erleichterung war riesig, als wir den Comet Rahmen in der Form der VV montieren konnten. Folgende Vorteile ergaben sich dadurch:

  • Die tiefere Sitzhöhe des Rahmens ermöglicht eine geringere Bodenfreiheit (neu ca. 11 cm). Entsprechend wird das HPV weniger seitenwindempfindlich.
  • Bedingt durch den grösseren Radstand wurde der Rahmen (bezogen auf den Sitz) ca. 5 cm weiter vorne eingebaut. Dadurch verbessert sich die Fahrstabilität unter Seitenwindeinfluss merklich.
  • Gesäss, Schultern und Kopf liegen nun tiefer in der Verschalung. Dadurch steht einerseits mehr Platz, andererseits vergrössert sich die Tretlagerüberhöhung, was einer ergonomischen Optimierung gleichkommt.
  • Durch die bewährte Verschraubung des Sitzrandes mit der VV kann der Rahmen stabil eingebaut werden und lässt sich einfach demontieren.
  • Die Verwendung des bewährten Birk 3-Gang Zwischengetriebes in Verbindung mit dem 28" Hinterrad, ermöglicht einen sehr grossen Schaltbereich, welcher auch Entfaltungen von 14 Metern und grösser zulässt, ohne ein riesiges Kettenblatt, eine weitere Umlenkung der Kette oder eine Schaltnabe verwenden zu müssen. Der Wirkungsgrad der Kraftübertragung dürfte so bei über 95% liegen.
  • Der schmale UDK-Lenker schwenkt weniger aus, was einen kleineren Wenderadius ergibt.
  • Die Änderung des Vorderrades von 451 auf 406er erlaubt die Verwendung schnellerer Reifen.

Die Gabel muss noch ans 406er Rad Vorderrad angepasst werden

Trotz der Euphorie war bald einmal klar, dass ein paar "einschneidende Massnahmen" am Hinterende der Vollverschalung nicht ausreichen würden, den Rahmen wie gewünscht zu platzieren. Wegen meiner Körpergrösse von 190 cm (mit langen Beinen) musste mit allen Mitteln versucht werden, das Tretlager in der VV tiefer zu legen. Da der Umbau seiner Werkstatt Jürg Birkenstock länger beanspruchte als geplant, begann ich selbst damit, die Birk Gabel auf die Verwendung eines 406er Rades umzubauen. Ich selbst konnte auf mehreren Testfahrten keine Beeinträchtigung des Fahrverhaltens (aufgrund des leicht reduzierten Nachlaufes) feststellen. Jürg fand das Kurvenverhalten sogar eher noch positiv beeinflusst. Die Änderung der Gabel war relativ einfach: 2 10mm Löcher genau am richtigen Ort (ca. 20 mm oberhalb der ursprünglichen Ausfallenden) mussten gebohrt werden. Die Gabel wurde am unteren Ende mit carbonverstärktem Harz unter Zuhilfenahme einer groben Spritze  ausgegossen. Der Sitz ist perfekt und die schmale Gabel flext genügend, um das Rad demontieren zu können.

Verschalung und Rahmen werden stabil miteinander verbunden

Zwei wichtige Arbeiten standen nun noch an: Der Ausleger, an welchem der vordere Verschalungsteil am Rahmen befestigt ist und erlaubt die VV zu öffnen, musste an den Comet Rahmen angepasst werden. Der hintere Verschalungsteil sollte in gleicher Art, wie es bei der Comet Teilverschalung der Fall ist, rund um den Sitz verschraubt werden. Dazu übertrug Jürg zuerst den Verlauf des Sitzaussenrandes entlang der Längsachse auf eine "zweidimensionale" Schaumstoffform, auf welche nun der Sitz umgekehrt gelegt wurde. Sitz und Schaumstoff bilden so ein Negativmodell für die fertige Sitzanpassung, welche schliesslich durch Zusägen in der VV eingepasst werden konnte. Das Resultat ist sensationell, sowohl hinsichtlich Stabilität und Gewicht als auch hinsichtlich Style.

 

Lange Kurbeln erfordern einen kleineren Q-Factor

Im Wintertaining auf dem Ergometer hatte ich erfolgreich von 170 mm Kurbeln auf 175 mm gewechselt und wollte dieses Plus nun auch in die Vollverschalung mitnehmen. Dazu war aber eine tiefere Tretlagerposition notwendig plus ein schmaleres Tretlager. Spezialtretlager kann ein CNC-Spezialist in Amerika herstellen, Custom-Made Tretlageraufnahmen gibts nur beim Carbon-Spezialisten in Jona!

 

 

 

 

Radverschalungen verbessern die Aerodynamik

am Vorderrad

Will man ein vollverschaltes HPV nicht nur für Rekordfahrten einsetzen, sondern auch für Rennen oder sogar im Verkehr, so ist die Verschalung des Vorderrades ein absolutes Muss, um zu verhindern, dass  Spritzwasser in die VV eindringen kann. Für eine praxistaugliche Lösung mit genügend Bodenfreiheit und Lenkeinschlag kam aus meiner Sicht nur ein mitdrehendes Radgehäuse in Frage, welches genügend Platz für die Beine lässt. Das Rad sollte möglichst eng umschlossen werden, wobei das Entstehen eines Pumpeffektes innerhalb des Gehäuses unbedingt verhindert werden muss.
Für das gespeichte Vorderrad wurden Abdeckscheiben hergestellt, welche mittels Silikonkleber direkt auf die Felge aufgeklebt wurden. Spezielle Speichennippel erlauben es, die Felge von aussen zu zentrieren.

am Hinterrad

Der Einfachheit halber und weil der hintere Fahrzeugteil ohnehin vom Cockpit abgetrennt ist, verzichtete ich vorerst auf eine komplette Einkastung  des gefederten Hinterrades. Solange keine Luft aus dem Fahrzeug austreten kann, dürften sich die Verluste in Grenzen halten (< 5 Watt bei 72 km/h). Das 28 Zoll Hinterrad wurde mit einer neuen aerodynamischen Verschalung umgeben, welche auch genügend Platz für Kette und Wechsler schafft.

  

 

Das Qualifying in Monza

Wie die WM-Rennen in Monza zeigten, konnte ich nun auf einem schnellen Rundkurs mit der Weltspitze mithalten. Hinsichtlich Ergonomie hatten wir bekanntlich keine Kompromisse gemacht, aber ein wenig erstaunt war ich dann doch, als ich merkte, dass ich mit nominell stärkeren Fahrern wie Aurelien Bonneteau in seinem Milan SL auf der leicht ansteigenden Zielgeraden mithalten konnte. (Er ist Weltrekordhalter über die Stunde, unverschalt). In den Kurven, war ich dank gut abgestimmter Hinterradfederung und griffigen Reifen (Conti GP4000 vorne und GP4000S, 25 mm hinten) gut unterwegs und mit 17 kg Fahrzeuggewicht konnte ich etwas schneller "herausbeschleunigen" als die Konkurrenz. Weitere Details dazu in meinen persönlichen Fahrbericht vom Dreistundenrennen in Monza . Die nachträgliche Analyse der SRM-Daten zeigte zweierlei: Ich war an meinem oberen Limit gefahren und der Cw-Wert der nicht optimierten Cabrioversion (einfach mit Aerohelm aber ohne Kopfverschalung) musste sich irgendwo zwischen 0.14 und 0.16 bewegen (zum Vergleich ein VW-Golf: 0.34, ein Milan SL: < 0.1). Die WM in Monza bot für mich ausgiebig Gelegenheit, die neue Konstruktion zu testen und war zugleich ein persönliches Qualifying für die Rekordversuche auf dem DEKRA-Oval in der Lausitz. Das Fahrzeug scheint ein grosses Potential zu haben, dass aber erst mit der passenden Kopfverschalung und einigen weiteren aerodynamischen Modifikation (Scheibenrad, abgedichtete Fussklappen) voll zum tragen kommen kann.

Die Kopfverschalung macht den Unterschied

Jürg Birkenstock überliess mir selbstlos das (Ur-)Modell der Kopfverschalung, welche er anfang der Neunzigerjahre für die Powerbar Verschalung seines Birk01 konstruiert hatte. Sie erschien mir anfänglich riesig. Der Schaumstoff wurde herausgebröselt und die verbleibende Hülle aus 2 Lagen Glasfaser an die Fahrzeugkontur angepasst. Als Scheibe diente vorerst eine 0.8 mm PET-Folie aus dem Baucenter, welche behelfsmässig mit Klebeband über die Sichtöffnung montiert wurde. Bei Tests auf der Radrennbahn Oerlikon konnte ich solchermassen ausgerüstet trotz aufspringender Fussklappen Spitzen um 70 km/h erreichen. - Nun konnte die alte Negativform nutzbringend wieder-verwertet werden: Aus zwei Lagen Mischgewebe und Stegen aus Styropor, welche ebenfalls mit Mischgewebe überzogen wurden, entstand so eine stabile und geräumige Kopfverschalung. Ein 0.75 mm dickes Acrylglas, welches ebenfalls nur gebogen aber nicht thermisch umgeformt wurde, ermöglicht eine absolut verzerrungsfreie Sicht. Die Zeit wurde knapp. Dennoch konnte ich die Blende am (mitdrehenden) Radkasten so anpassen, dass sie den entstehenden Spalt vollständig schliesst. Auch die Spezialreifen waren Last-Minute angekommen - vielen Dank an Conti und an DropLimits - und das Scheibenrad hinten schien auch willig, 8 Watt zum Rekord beizutragen. Mit gedämpftem Optimismus (ich hatte schon lange nicht mehr lange trainiert) belud ich den ausgeliehenen Minivan und holte Röbi Stolz, den Fahradbauer, und Snapper-Team-Kollegen aus alten Tagen bei Fahrradbau Stolz ab. Ja und dann kam eben nach einer sehr kurzweiligen Anfahrt der grosse Dauerregen über die Lausitz. Schlimmer noch: Winde mit Böhen bis zu 30 km/h, welche mich wohl früher oder später umgeworfen hätten, verhinderten jegliche Testfahrten - an Rekorde war schon gar nicht zu denken! Trotzdem: Wir hatten eine gute Zeit und ich hatte ausgiebig Gelegenheit, meine Konkurrenten im Stehen und Sitzen zu betrachten mit ihnen in insgesamt 4 Sprachen zu plaudern und das interessante Innenleben ihrer Fahrzeuge zu studieren.

Wo stehen wir?

Doch eine Frage liess mir einfach keine Ruhe: Wäre es unter besseren äusseren Bedingungen überhaupt möglich gewesen, den 6 Stunden-Rekord von 71.3 km/h des Speedbike-Teams gefahren von Axel Fehlau anzugreifen? Im Gegensatz zum EivieStretto Team (Francesco Russo fuhr einen neuen Weltrekord über die Stunde mit ca. 91 km) und dem Velox Team hatte ich keine Gelegenheit, bis Montag oder Dienstag auf schöneres Wetter zu warten. Mein Peregrin on a Birk hatte ich nach der Rückfahrt vorsätzlich im MiniVan meines Vaters gelassen, denn ich wollte möglichst bald auf die offene Rennbahn Zürich-Oerlikon gehen, um endlich einen Anhaltspunkt zu haben. Ich konnte während einer Stunde mehrere Geschwindigkeitsbereiche fahren; die exakte Geschwindigkeit und die dazu notwendige Leistung wurden vom SRM-Powermeter auf das Garmin übertragen und gespeichert. Geplant waren 50 km/h, 55 km/h und 60 km/h, doch es zeigte sich, dass auch 65 km/h und 70 km/h gefahrlos drinliegen (bei 65 km/h beträgt die Zentripetalbeschleunigung 1 g was bedeutet, dass ich während der Kurvendurchfahrt 160 kg statt 80 kg wiege und sich der Rollwiderstand verdoppelt! Bei 70 km/h fuhr ich zwar noch deutlich unter meinem CP (Critical Power, = Stundendauerleistung) aber mein Puls war um 10 Schläge höher als normal. Nach einigem Rechnen - auch das schafft man ohne Druckanzug und NASA - sei nur soviel verraten: Um den aktuellen 24-Stundenweltrekord im Peregrin on a Birk anzugreifen, reichen unter idealen Bedingungen weniger als 100 Watt und last but not least: Das Ziel 72 km/h Schnitt über 6 Stunden war durchaus realistisch. Eggert Bülk, der Vater der Milan-Form hatte also doch recht, als er mir erklärte, die Kopfverschalung bringt mindestens 40% Leistungsersparnis bei deinem Fahrzeug über die 6 Stunden...

..und wie weiter?

Nachdem ich nun weiss, wieviel das aktuelle Fahrzeug zu leisten vermag oder umgekehrt ausgedrückt, wie wenig Leistung man/frau benötigt, um es schnell zu bewegen, ist zwar noch kein Rekord gebrochen, dafür aber die Überzeugung gewonnen, dass das verfolgte Konzept das richtige ist. Ein Konzept, das von anfang an vorsah, nicht einfach ein spezialisiertes Rekordfahrzeug zu bauen, sondern eine Plattform für weitere Entwicklungen von schnellen HPVs zu schaffen. Neben der Feinoptimierung von Aerodynamik und Reifen für kommende Ausdauerrekorde steht die gezielte Verbesserung der Cabrioversion (3/4-Verschalung) für HPV-Rennen und Ausdauerprüfungen auf der Strasse (...) im Vordergrund. Natürlich liesse sich auch ein alltagstaugliches, elektrifiziertes dreirädriges Velomobil bauen; innovativer erscheint mir aber der Ansatz, das Peregrin VV mit Hilfe von einziehbaren Stützrädern auf den Alltag vorzubereiten.

Wenn Sie sich für die Peregrin Vollverschalung oder für die Realisierung einer bestimmte Fahrzeugvariante interessieren oder wenn Sie gedenken, das Projekt in irgendeiner Form zu unterstützen, verwenden sie bitte das Kontaktformular.

Charles Henry, 16.8.2011