Rollwiderstand mit Rollenprüfstand messen

Wer wirklich schnell fahren will, braucht auch schnelle Reifen

Den Rollwiderstand von Fahrradreifen zu messen, ist nicht einfach ein Hype der HPV-Szene, der mit dem Velocomputer, dem SRM und den Velo-Apps auf allen Handys in manchem Velomobilcockpits Einzug gehalten hat. Schon 1993 machte Thomas Senkel im First European Seminar on Velomobile Design "Ein Plädoyer für einen guten Reifen", nachdem er an der Uni Oldenburg Ausrollmessungen durchgeführt hatte. Allert Jacobs von velomobiel.nl testete ähnlich, indem er ein Dreirad von einem 10 cm hohen Podest ausrollen lässt und die zurückgelegte Distanz misst. Wim Schermer "pendelt" sozusagen den Rollwiderstand von unterschiedlichen Reifen auf echtem Strassenbelag aus und selbst Rennradzeitschriften wie das Tour messen regelmässig auf den grossen stälernen Rollen der Reifenhersteller deren neuesten Produkte.
Die meisten dieser Methoden ermitteln den Rollwiderstand bei verhältnismässig langsamen Geschwindigkeiten und alle nur in einem kleinen Geschwindigkeitsbereich.

Sie gehen implizit davon aus, dass für den Rollwiderstand nur vom Gewicht abhängig ist: Fr = Cr*m*g
(Cr: Rollwiderstandskoeffizient [dimensionslos], m: Gesamtmasse [kg], g: Erdbeschleunigung 9.81 [m/s2] )

Spätestens seit den Langstreckenrekorden von Christian Ascheberg (1219 km in 24 Stunden, 2010 auf  Dekra Oval) und der nachträglichen aerodynamischen Vermessung seines Milans muss vermutet werden, dass der tatsächliche Rollwiderstand von Velomobilen bei höheren Geschwindigkeiten weit über dem liegen muss, was wir glauben. Deshalb werden auch immer wieder Anstrengungen unternommen, den Rollwiderstand durch praxisnahe Ausrollversuche mit Velomobilen kontinuierlich zu bestimmen, indem man mit mathematischen Methoden versucht, Rollwiderstand und Luftwiderstandanteil voneinander zu trennen. Voraussetzung ist allerdings eine zentimetergenaue Kenntnis des Streckenverlaufs und windstille Verhältnisse.

Der vorliegende Bericht stellt eine einfache Möglichkeit vor, Rollwiderstände von Fahrradreifen unter standardisierten Bedingungen bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu messen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei weniger auf der Bestimmung der absoluten Rollwiderstandskoeffizienten einzelner Reifen, sondern auf der Hypothese, dass die Rollwiderstandskraft (entgegen der weit verbreiteten Ansicht) nicht konstant ist, sondern mit zunehmender Geschwindigkeit beträchtlich ansteigt.

 Aufbau der Messvorrichtung

[zum vergrössern der Bilder draufklicken, click picture to enlarge]

  • Stahlzylinder: DM: 310 mm, Länge 26 mm. Er funktioniert a) als (glatte) Lauffläche für die Pneus b) als Schwungmasse, die den Ausrollvorgang antreibt.
  • geschweisster Stahlrahmen zur Lagerung des Schwungrades und Befestigung am Hobelbank
  • Handbohrmaschine 220 V zum koaxialen Beschleunigen der Schwungmasse
  • Alumast mit vertikal schwenkbarem Ausleger aus Holz zur Befestigung des zu testenden Rades
  • Zusatzgewicht Eisen: eingehängt am Ende des Auslegers
  • Fahrradräder 406 (werden in schwenkbaren Ausleger mittig eingehängt)
  • Geschwindigkeitsmesser SRM, ANT+ kompatibel, übermittelt 1x pro Sek. die aktuelle Geschwindigkeit.
  • Empfänger: Garmin Edge 800 empfängt ANT+ Signale und speichert die Daten als FIT-Datei.
  • Spreadsheet zur Auswertung der gemessenen Daten

Die Messvorrichtung stammt zu grossen Teilen aus meinen Mileage Marathon Tagen. (Damals galt es, das Beschleunigungsverhalten eines 4-Takt-Motors zu messen). Abgebildet ist das aktuelle Setup.

Ablauf einer Messung

  • Der zu messende Reifen wird auf den maximalen Nenndruck aufgepumpt
  • Das Rad wird mittig auf die schmale Laufffläche des Schwungrades aufgesetzt.
  • Das Zusatzgewicht wird am Ende des Auslegers eingehängt. Die Belastung des Reifens beträgt: 2 * 13.22 kg (Zusatzgewicht) + 1.35 kg (Rad und Radaufhängung) = 29.14 kg.
  • Das Garmin Edge wird eingeschaltet. Die aktuelle Geschwindigkeit ist nun auf dem Display ablesbar.
  • Das Schwungrad wird mit der Handbohrmaschine beschleunigt, bis seine Laufffläche ca. 85 km/h schnell dreht. Beim Abschalten der Bohrmaschine löst sich die Gewindekupplung. Das Rad läuft jetzt frei.
  • Sobald das Schwungrad stillsteht, wird die Datenaufnahme durch Betätigen der Reset-Funktion im Garmin gespeichert.
  • 3 Messläufe werden (bei 18 bis 22 Grad) durchgeführt und, sofern sich keine Unregelmässigkeiten zeigen, der letzte der Läufe ausgewertet.

Auswertung der Resultate

Bei jedem Ausrollvorgang wird eine separate  FIT-Datei angelegt. Um die interessierenden Geschwinidgkeitsdaten im Spreadsheet analysieren zu können, muss die FIT-Datei zuerst ins CSV-Format übersetzt werden (z.B. via http://garmin.kiesewetter.nl oder http://www.gpsies.com/convert.do ). Die Auswertung und die Darstellung der Resultate erfolgt mit einer Exceltabelle.

In einem separaten Kalibrierlauf mit minimalem Radauflagegewicht werden die geschwindigkeitsabhängigen Leistungswerte P(v) zur Überwindung der Luftströmungsverluste an Schwungrad und Rad ermittelt und von den Leistungswerten der Reifenmessung mit identischer Geschwindigkeit abgezogen. Die lastabhängigen Reibungsverluste in den Lagern sind selbst bei Höchstdrehzahl kleiner als 1 Watt und können deshalb vernachlässigt werden. (vgl. dazu: http://webtools3.skf.com/BearingCalc/selectProduct.action ). Das Auflagegewicht beim Kalibrierlauf beträgt 0.44 kg. Es wird der Conti GP Special Reifen verwendet (geringster Rollwiderstand). Der maximal daraus resultierende Fehler (bei grösstem Rollwiderstand, Kojak) dürfte bei unter einem Prozent liegen: (0.44 / 29.14) / 2 = 0.0075 = 0.75%

Wegen der schlechten zeitlichen Auflösung des Garmin Gerätes und des ANT+ Protokolls ist es nicht möglich, aus den Messdaten direkt die momentane Verlustleistung P(v) = dE/dt zu berechnen. Verschiedene Glättungsmethoden wurden deshalb ausprobiert. Mit Hilfe der Polynomfunktion 3. Grades , sie hat die Form: v(t)= at3+bt2+ct+d , lassen sich die gezeigten Kurvenverläufe fast perfekt abbilden. Die Koeffizienten a, b, c, d können mittels linearer Regression / Methode der kleinsten Fehlerquadrate aus den Messdaten bestimmt werden (z.B. mit Online-Rechner: http://www.arndt-bruenner.de/mathe/scripts/regr.htm ). Das Spreadsheet verwendet zur Lösung die RGP-Statistikfunktion.

 Darstellung der Messergebnisse

1. Rollgeschwindigkeit im zeitlichen Verlauf: v(t)

Das nebenstehende Diagramm (diagramm_v_t.jpg) zeigt den zeitlichen Verlauf des Ausrollvorgangs für zwei unterschiedliche Reifen und den Kalibrierlauf auf dem Rollenprüfstand. In der Vertikalen (Y-Achse) ist die Rollgeschwindigkeit v[m/s] aufgetragen, in der Horizontalen (X-Achse) die Zeit t[s] seit dem Start des freien Ausrollens.

Während der langsame Reifen Schwalbe Kojak 35-406, 2010 schon nach ca. 65 Sekunden stillsteht, dreht der schnelle Reifen Conti GP 28-406 Spezial (ohne Pannenschutz) ca. 100 Sekunden. Die dritte Kurve mit Stillstand nach ca. 320 Sekunden stellt den Kalibrierlauf dar. Die  gestrichelte schwarze Linie entspricht der  Polynomfunktion y = 0.0000014992*x3 + 0.0008153653*x2 - 0.3217164596*x + 22.3847630583 , deren Koeffizienten aus den Messwerten (v;t) des Messlaufes mit dem Conti Spezial Reifen berechnet wurde.

 

 

2. Rollleistung bei einer bestimmten Geschwindigeit: P(v)

Für die Leistung gilt: P = Fv und P = mva (weil F = ma)

Die Leistung zum Zeitpunkt t:  P = mv(t)dv(t)/dt (1)

Die momentane Leistung kann nicht direkt aus der Geschwindigkeitsdifferenz zweier benachbarter Messungen berechnet werden, weil die Messresultate aufgrund der groben zeitlichen Auflösung zu stark schwanken (vgl. dünne grüne Linie).

Die Momentangeschwindigkeit kann mittels Polynom 3. Grades bestimmt werden:

v(t) = at3+bt2+ct+d

Die Beschleunigung ist die Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit (a = dv/dt ). Ebenso kann das Polynom 3. Grades abgeleitet werden. Es ergibt sich:

dv(t)/dt = 3at2+2bt+c

Ersetzt man in der Gleichung (1) v(t) und dv(t)/dt durch die äquivalenten Polynomausdrücke, so erhält man für die Leistung:

P = m⋅(at3+bt2+ct+d)(3at2+2bt+c)

Es liegt nun ein Ausdruck vor, der es erlaubt, sobald die Koeffizienten a, b, c, d bekannt sind, für beliebige Zeiten t (und zugehörige Geschwindigkeiten v) die Leistung P zu berechnen. Die Statistik-Funktion RGP von Excel wird verwendet, um auf Basis der Messwerte die 4 Koeffizienten zu ermitteln (Stichwort: Lineare Regression).

Die nebenstehende Graphik (diagramm_p_v.jpg) zeigt für verschiedene Reifen die (Netto-)Rollleistung bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Darunter ist die ermittelte Verlustleistung (Luftwirbel an Rad und Schwungrad, Lagerverluste) beim Kalibrierlauf eingezeichnet, welche von den Messwerten oben abgezogen wurde. Ein linear ansteigender Leistungsverlauf ergäbe sich nur dann, wenn die Rollwiderstandskraft konstant wäre...

Anmerkung: Messwerte für Geschwindigkeiten < 1 m/s sind nicht mehr aussagekräftig.

 

3. Rollwiderstandskoeffizient in Abhängigkeit von der Geschwindigeit: Cr(v)

Für die Berechnung der Rollwiderstandskraft Fr wird oftmals angenommen, dass sie einzig vom Gewicht des Fahrzeuges (m * g) nicht aber von der Geschwindigkeit abhängig sei. Man schreibt deshalb vereinfachend:

Fr  = m * g * Cr (1)  wobei Cr als Rollwiderstandkoeffizient bezeichnet wird.

Der Zusammenhang zwischen Leistung und Kraft ist bekanntlich: P = F * v (2)

setzt man (1) in (2) ein, ergibt sich:  P =  m * g * Cr * v

..und nach Cr umgeformt: Cr = P / ( m * g * v )

In nebenstehendem Diagramm ("diagramm_cr_v.jpg") wurden für die P-v-Messwertpaare die Cr -Werte berechnet, und über der zugehörigen Geschwindigkeit v eingezeichnet. Das Resultat steht deutlich im Widerspruch zur anfänglichen Annahme, Cr sei eine geschwindigkeitsunabhängige Grösse.

 

 

Interpretation der Resultate

Das 2. Diagramm Rollleistung bei einer bestimmten Geschwindigeit: P(v) zeigt: Die Leistung zur Überwindung des Rollwiderstandes steigt nicht linear mit der Geschwindigkeit, sondern exponentiell.
Dementsprechend zeigt Diagramm 3. Gemessene Rollwiderstandskoeffizienten sind von der Geschwindigkeit abhängig einen deutlichen Anstieg des Cr-Wertes mit zunehmender Geschwindigkeit für alle getesteten Reifen. Bei einigen wächst der Rollwiderstand über den ganzen Messbereich betrachtet (1m/s bis 20 m/s) um bis zu 90%. Dies würde erklären, wieso bei Ausrollmessungen mit Velomobilen die ermittelten Cr-Werte weit über denjenigen liegen, welche bei Rennradreifentest gemessen werden.

Gemäss Literatur setzt sich der gesamte Rollwiderstand aus einem geschwindigkeitsunabhängigen Crkonst und einem geschwindigkeitsabhängigen Teil Crvar zusammen. Goro Tamai ("the Leading Edge", 1999) verwendet für den geschwindigkeitsabhängigen Rollwiderstandskoeffizienten den Ausdruck:

Cr = Crkonst + n/3 * Crvar * v   (n: Anzahl Räder)

Für Solarmobilreifen wurde durch Fahrversuche ein Crvar = 4.1 * 10-5 (km/h)-1 = 0.000148 / (m/s) ermittelt.
Zum Vergleich: Die geschwindigkeitsabhängige Zunahme der auf der Rolle gemessenen Rollwiderstandswerte betrug im Durchschnitt der Reifen von 2 bis 22 m/s ca. 0.002. Somit ergibt sich ein Crvar =  0.002 [1/(m/s)] / 20 [m/s] = 0.0001. Die unterschiedliche starke Krümmung der Kurvenverläufe im Cr_v-Diagramm deutet darauf hin, dass es sich dabei nicht einfach um einen Messartefakt handelt und der Crvar eher reifenabhängig definiert werden müsste.

Intuitiv ist verständlich, dass die auf die Rolle (bzw. Fahrbahn) auftreffende Masse der Reifenlauffläche verbunden mit der Verformung des Reifengummis am Latsch zu einem geschwindigkeitsabhängigen Rollwiderstand führen muss. Nach Auschluss aller nichtrelevanten parasitären Verluste (Luftwirbel, Lagerreibung) stehen folgende Faktoren mit möglichem Einfluss auf den Crvar im Fokus:

  • die Hysterese des Reifengummis (Gummimischung und Zusätze wie Silica und Russ)
  • die Gummidicke (Massenträgheit)
  • der Pannenschutz
  • der Luftdruck
  • dynamischer Reifenabrieb auf der Straße
     

Schlussbetrachtung

Die vorläufigen Testreihen mit dem improvisierten Rollenprüfstand zeigen:

  • Es ist grundsätzlich möglich, mit einem einzigen Messlauf Aussagen über das Rollverhalten eines Reifens bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten unter Standardbedingungen zu machen.
  • Die einzelnen Resultate sind sehr gut reproduzierbar.
  • Im Vergleich zu anderen Versuchsanordnungen (z.B. Bandprüfstand) sind die Vibrationen leicht zu kontrollieren.
  • Aussagen über den absoluten Cr sind wegen der gebogenen Laufffläche und der glatten Oberfläche mit Vorsicht zu geniessen
  • Die Erfassung der Daten ist (noch) nicht optimal, da wegen der zweckentfremdeten Hardware zu wenig zeitliche Auflösung möglich ist.

Es sollten unbedingt Anstrengungen unternommen werden, den Einfluss der Geschwindigkeit auf den Rollwiderstand von Fahrradreifen genau zu messen. Erst wenn zuverlässige geschwindigkeitsabhängige Kennwerte für den Rollwiderstand vorliegen, wird es möglich sein, aufgrund der Fahrwiderstände auch den Luftwiderstand von schnellen HPVs (z.B. Velomobile) zuverlässig bestimmen und vergleichen zu können.

Ob Rollwiderstandsmessungen bei geringer Geschwindigkeit (0 bis 2 m/s) wie Ausrollversuche von Rampen oder Pendelmessungen auch Aussagen über die erwartenden Fahrtwiderstände bei hohen Geschwindigkeiten zulassen, wird sich zeigen.

Ich danke Leonardi aus dem velomobilforum.de für die Hinweise zu den mathematischen Methoden.

Nachträge (werden laufend aktualisiert)

Originaldateien zum Download

Die Originaldateien der Messungen stehen als gezippte CSV-Files zum Download zur Verfügung.
Hinweis: Spalte F wurde ausgewertet. Sie enthält die sekündlich gemessenen Geschwindigkeiten in [m/s].

Literatur

  • Manfred Mieschke Dynamik der Kraftfahrzeuge Bild 4.5.Rollwiderstandsbeiwerte von PKW Reifen . Auf S.10 wird auch ein Korrekturfaktor für Messungen auf Rollenprüfständen ggü. flachem Boden definiert.

Diskussion des Themas auf velomobilforum.de

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