4000 m Rekord mit stehendem Start auf Rennbahn Oerlikon

Sportpsychologie gegen feuchte Luft?

Gute Sportpsychologen raten ihren Athleten nach Misserfolgen jeweils, diese nicht weiter zu analysieren, sondern möglichst bald einfach zu vergessen. So betrachtet hätte ich zumindest aus psychohygienischen Gründen die ganze Saison 2012 einfach abhaken sollen: Die Weltmeisterschaften und die Cycle Vision hatten ohne mich stattgefunden, und am ersten Rekordwochenende in der Lausitz war die neue Haube das PoB (Peregrin on Birk) noch nicht bereit. Mein 6 Stunden Rekordversuch einen Monat später nährte dann immerhin die Hoffnung, dass zumindest seiten des Fahrzeuges grosses Potential besteht. Gute 2 Stunden lag ich auf Rekordkurs und dann beschlägt die Scheibe...

Die Radrennbahn wird 100 - das Saisonende kann warten

Wieso ich die Luft noch nicht vollständig aus den Reifen gelassen habe, hat mehrere Gründe:
Zum einen: Vergessen bei Misserfolgen mag bei Rennfahrern die richtige Strategie sein, als Konstrukteur sollte ich hingegen besser scharf darüber nachdenken, wie die Belüftung verbessert werden kann, ohne zusätzlichen Widerstand zu erzeugen und dies sollte man ja dann auch gleich ausprobieren.
Zum andern: Die Radrennbahn Oerlikon feiert dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Unser Verein beteiligte sich mit einer Ausstellung und einem Corso von historischen und aktuellen Liegerädern und Velomobilen. Paul Rudin der Organisator unseres Auftritts wollte es aber nicht bei diesem Rückblick bewenden lassen. Francescos EIVIESTRETTO Trainngsprototyp, ein Aerodynamikvergleich und zuletzt einige schnelle Runden mit dem PoB sollten dem staunenden Publikum zeigen, wieso wir Futurebike und nicht Liegeradvintage heissen. Das OK war offen für unsere Ideen und fragte mich, ob ich nicht gleich einen Rekordversuch fahren möchte. Nach einigen Abklärungen entschloss ich mich, den 28 Jahre alten Weltrekord von Fast Freddie Markham über 4000 Meter mit stehendem Start anzugreifen. Ich hatte letztes Jahr beim Trainieren schon einmal relativ leicht Geschwindigkeiten von 75 km/h oberhalb der Steherlinie erreicht. Kombiniert mit einem ersten Kilometer um eine Minute war das doch zu schaffen. Die Vorbereitung musste sofort beginnen; die Devise hiess: mindestens noch 2 - 3 Testsessions auf der RR absolvieren und ab sofort nur noch Müesli statt helles Brot.

Die Rekordvorbereitung

Schon das ersteTraining offenbarte grosse Mängel: Zwar erreichte ich trotz Pumpbewegungen beim Start 61 km/h nach der ersten Runde, Kurvengeschwindigkeiten über 70 km/h lagen aber nicht drin, weil durch die Zentripetalkraft die Luftfeder so arg zusammengedrückt wurde, dass der 28 cm breite Conti GP 4000S Spezial Hinterradreifen am Birk-Comet-Rahmen streifte.
Für das nächste Training wurde der Dämpfer auf 15 Bar aufgepumpt. Es zeigte sich, dass die neue Lüftung direkt vor der Kopfhaube effizienter ist und die Scheibe besser belüftet als das 40 mm grosse Loch am Stagnationspunkt vorne und das alles bei gleichbleibendem Luftwiderstand. Die Federung funktionierte nun auch beim Start und bei Volltempo einwandfrei. Dagegen schien das PoB bei stärkeren Korrekturen in den Kurven davonzuschwimmen.
Erst nach dem Training merkte ich, dass nur noch 7 Bar im Vorderreifen drin waren. Die Analyse des Powermeter-Logs offenbarte, dass ich den ersten Kilometer zwar unter einer Minute zurücklegen konnte, anschliessend aber in ein Leistungsloch von annähernd 8 Sekunden fiel. Schuld daran war nicht die plötzliche Erschöpfung, sondern die verzögerte Schaltsequenz: Erste 9 Gänge ausfahren, dann Zwischengetriebe umwerfen, anschliessend Kassette 3 Gänge zurückschalten, voll reintreten und dabei immer schön steuern. Statt der 12-23 Kassette zog ich die 12-27 Kassette auf mit dem Effekt, dass ich schon auf dem grössten Kettenrad des Zwischengetriebes bei einer Entfaltung von ca. 6.5m starten konnte. In den folgenden Tagen studierte ich öfters die lokalen Wetterprognosen. Mir wurde Angst und Bang. Den 33° im letzten Training sollten nun kühlere Tage folgen begleitet von vereinzelten Schauern und ziemlich viel Wind.

Ein Samstag mit Regen und Rennabbrüchen

Am Samstag (25.8.2012) besuchte ich die Festveranstaltung. Das Deffillee der historischen Radfahrerkompagnie auf ihren Rädern aus den diversen Epochen konnte mich nicht erwärmen, ja nicht einmal die Tatsache, dass die meisten Veteranen lange graue Bärte trugen, konnte mich erheitern und auch die liebevoll hergerichtete Liegeradlounge des Vereins FB war mir keine Heimat. So stand ich also sinnierend am Rande der Rennbahn als ich von einem Rennfahrer gefragt wurde, ob ich ihn fürs Steherrennen starten könne. "Klar" sagte ich und bemerkte erst jetzt, dass ich vom amtierenden Europameister Guiseppe Azzeni angesprochen worden war. Vereinzelte Regentropfen begannen die Bahn dunkelgrau zu sprenkeln als die Motorräder laut knatternd gestartet wurden . Auf meine etwas dümmliche Frage, ob es nicht rutschig sei, antwortete Azzeni routiniert "Nein, nur wenn man auf die farbigen Striche fährt". ...doch dazu kam es gar nicht erst, das Rennen wurde nach wenigen Runden wegen Regen abgebrochen.

Back to the Future(bike)

Der Sonntag (26.8.2012) zeigte sich dann mit mehr Sonne aber auch mit viel Wind. Nach der Parade der historischen Fahrräder und dem Corso der Liegeräder demonstrierte der schnellste Mann der Welt über die Stunde, Francesco Russo, auf seinem Trainingsprototypen, wie man mit Hilfe eines Spiegels selbst in einem Velodrom rückwärts fahren kann.
Der direkte Aerodynamikvergleich, zwischen einem Rennvelo und dem PoB
[Aerodynamikvergleich als Youtube Video], bei welchem beide bei 50 km/h gleichzeitig aufhören zu treten, zeigte dem Publikum auf anschauliche Weise den enormen  aerodynamischen Vorteil des vollverschalten Liegerades... und mir bot sich endlich Gelegenheit, die windexponierten Stellen auf der Bahn zu erkunden.

Ein weisses HPV zwischen zwei blauen Linien

Nach einem kurzen Interview beim Speaker war es soweit: Das PoB wartete schon geduldig hinter der Startlinie auf mich. Also eingestiegen, Verschalung zugeklappt, Verschlüsse eingehängt. Da ich gehalten wurde, konnte ich einklicken und die Fussklappen schliessen. Ich zählte selbst von drei zurück ...und los!
Wie an einem Faden gezogen rollte das HPV auf die erste Kurve zu, welche ich problemlos oberhalb der schwarzen Messlinie durchfuhr. Auf der Gegengeraden merkte ich, dass das Zwischengetriebe nicht im grössten, sondern im mittleren Gang war; ich musste also sofort schalten. Am Ende der Zielgeraden zeigte mein Garmin Edge statt der erhofften 62 km/h die Frage "Stoppuhr starten?". Das hatte nun wirklich Zeit bis zum Ende der Kurve. Nach einem Kilometer (3 Runden) hatte ich wie geplant die 72 km/h - Marke erreicht. In Runde 8 drückte mich eine Böhe anfangs Südkurve gegen aussen. Ich korrigierte reflexartig und etwas überschiessend, konnte aber verhindern, dass das PoB unter die Steherlinie fuhr. Der Geruch nach Gummi liess mich vermuten, dass ich eben die Haftreserven etwas beanssprucht hatte. Die Geschwindigkeit war unter 70 km/h gefallen. Sofort nach den ersten kräftigen Pedaltritten stabilisierte sich des PoB wieder, allerdings hatte der Wind mir den Schneid etwas abgekauft. Die Rundentafel zeigte schneller als erwartet die magische Zahl 1 und die letzte Runde wurde eingeläutet. Ich durfte jetzt nur nicht nachlassen.
Nach der Zieldurchfahrt rollte ich noch einige Runden aus und steuerte das PoB schliesslich Ende der Geraden von der Bahn in den Innenraum und öffnete die Fussklappe. [Rekordfahrt als Youtube Video].

Die Anspannung weicht, die Freude bleibt

Plötzlich war ich umringt von einer Menschenmenge. Alle wollten etwas wissen...und ich war einfach froh, dass es vorbei war. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich den Rekord von Fast Freddie unterboten hatte und um wieviel? Die Jury war noch am rechnen. Weil die Fahrt mit Ausnahme der ersten Runde immer oberhalb der Steherlinie führte, war ich auf den gemessenen 12 Runden insgesamt 135.08 Meter zu weit gefahren. Die dafür zusätzlich benötigte Zeit konnte also noch abgezogen werden.

Die neue Rekordzeit über 4000m mit stehendem Start auf einer Radrennbahn beträgt nun 3 Minuten 40.33 Sekunden.

Rekorde, speziell solche mit vollverschalten HPVs (Human Powered Vehicles), lassen sich nicht einfach bestellen. Zu gross ist der Einfluss von äusseren Bedingungen. Dass es diesmal genau auf den 100. Geburtstag der Rennbahn Oerlikon trotz nicht optimalen Voraussetzungen geklappt hat, bedeutet für mich viel mehr als ein versöhnlicher Saisonabschluss. Es ist vielleicht Zufall aber es ist auch ein Zeichen, dass sich Erfolg nicht nur in Schönwetterperioden schicksalshaft einstellt, sondern entschlossen gesucht werden sollte.

Ich möchte allen an diesem Wochenende beteiligten Kolleginnen und Kollegen des Vereins Futurebike herzlich danken. Allen voran Paul Rudin, der unseren Auftritt - den Tücken der modernen Verbindungstechnik zum Trotz - bravourös inszeniert hat. Grosser Dank gebührt auch der IGOR (Interessengemeinschaft offene Rennbahn Oerlikon) und speziell ihrem Präsident Alois Iten. Sie haben in den letzten Jahren viel Verständnis für uns Liegeradfahrer gezeigt und mir entscheidende Trainingserfahrungen ermöglicht.

N.B. Wir werden versuchen, die sehr gut dokumentierte Fahrt bei der WHPVA zu homologieren.

Eine Diashow mit Bildern der Veranstaltung

Charles Henry, 31.8.2012 ; Bilder: Michael Ammann; Filme: Timm Delfs